Die Schamanin von Bad Dürrenberg war vermutlich die bedeutendste Frau ihrer Zeit. Rund 200 Menschen nahmen an ihrer Beerdigung teil. Das beweisen eindrucksvoll die Klingen, die der Toten ins Grab gelegt wurden.
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Die Schamanin von Bad Dürrenberg war vermutlich die bedeutendste Frau ihrer Zeit. Rund 200 Menschen nahmen an ihrer Beerdigung teil. Das beweisen eindrucksvoll die Klingen, die der Toten ins Grab gelegt wurden.

Bei einer Heilung trug die Schamanin vermutlich einen Kopfschmuck, der von den Hörnern eines Rehbocks gekrönt war. Solche Geweihkappen sind beispielsweise in Sibirien und Nordamerika vielfach für Schamanen belegt. Außerdem trug sie eine Kette aus Tierzähnen. Insgesamt 50 Zähne von Auerochsen, Wildschweinen und Hirschen befanden sich in ihrem Grab, die meisten waren sorgfältig durchbohrt.


Das Forscher-Team nimmt an, dass die Frau aus der Mittelsteinzeit eine ganz besondere Sicht auf die Welt hatte. Wegen eines genetischen Defekts könnte sie halluziniert haben oder in der Lage gewesen sein, spontan in Trance zu fallen.

9000 Jahre nach ihrem Tod versucht ein Forscherteam herauszufinden, wie die Schamanin von Bad Dürrenberg gestorben ist. Im Bild von links: Die Archäologen Jörg Orschiedt, Franziska Knoll, Harald Meller, Andreas Siegl und der Autor Kai Michel

Die Paläontologin Franziska Knoll entdeckte eine weitere Besonderheit des Grabes der Schamanin von Bad Dürrenberg: Der Korb, in den ihre Gemeinschaft die Schamanin zur letzten Ruhe legte, war mit einer Kalkschicht verputzt. Diese Entdeckung ist deshalb so spektakulär, weil bisher angenommen wurde, dass die Menschen der Mittelsteinzeit nur in Zelten mit Fellbespannung lebten. Die Kunst des Verputzens ordnete man erst viel später den ersten Hausbauern zu.

Der Schädel der Schamanin von Bad Dürrenberg zeigt eine auffällige Besonderheit: Die oberen Schneidezähne waren künstlich abgeschrägt. Gehörte das Feilen der Zähne zu einem schmerzhaften Initiationsritus?

Bei einer Heilung trug die Schamanin vermutlich einen Kopfschmuck, der von den Hörnern eines Rehbocks gekrönt war. Solche Geweihkappen sind beispielsweise in Sibirien und Nordamerika vielfach für Schamanen belegt. Außerdem trug sie eine Kette aus Tierzähnen. Insgesamt 50 Zähne befanden sich in ihrem Grab, die meisten waren sorgfältig durchbohrt.

Ein schmerzhaftes Initiationsritual: Die oberen Schneidezähne der Schamanin von Bad Dürrenberg wurden schräg abgefeilt.

Auch der Panzer einer Sumpfschildkröte wurde im Grab der Schamanin gefunden. Diente der Panzer als Gefäß zum Anrühren von Medizin oder gehörte das lebende Reptil zu den Totemtieren der Schamanin?

Mit dem Bogen auf der Jagd? Im Grab der Schamanin befand sich ein bearbeiteter Kranichknochen, der nach dem heutigen Kenntnisstand als Behälter für Pfeilspitzen gedient hat. Aus der Mittelsteinzeit sind Gräber allgemein selten, Beigaben kaum vorhanden. Die zahlreichen Funde aus dem Schamaninnengrab belegen die enorme Bedeutung dieser geheimnisvollen Frau.

Zur Lösung des Rätsels um die abgefeilten Zähne trägt der Radiologe Walter Wohlgemuth vom Universitätsklinikum in Halle maßgeblich bei. Durch die Untersuchung im Computertomographen wird deutlich, dass die vorderen Schneidezähne tatsächlich absichtlich abgefeilt wurden.

Vermutlich kannte die Schamanin bereits die heilende Wirkung der Quellen, die später Dürrenberg zu einem Kurort machten.
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Die Schamanin von Bad Dürrenberg: Vor 9000 Jahren von ihren Zeitgenossen verehrt, 1934 von den Nazis entdeckt und für Propaganda missbraucht. Erst vor Kurzem wurde ihr Geheimnis gelüftet. Die aktuelle Untersuchung dieser außergewöhnlichen Frau enthüllt nicht nur spektakuläre Erkenntnisse über das Leben in der Mittelsteinzeit, sondern spiegelt auch die brandaktuelle Diskussion in der
Archäologie: Wie viel Fake News verbergen sich in Wissenschaft? Im Fall der Schamanin könnte die Fehlinterpretation kaum gravierender sein. Im Nationalsozialismus deutete man das für die Mittelsteinzeit außergewöhnlich reiche Grab als letzte Ruhestätte eines bedeutenden Mannes. Der als arischer, weißer Vorfahr der Deutschen reklamierte Fund sollte die Rassentheorie stützen. Heute kann die Paläogenetik zweifelsfrei beweisen, dass die bestattete Person keineswegs zum frei erfundenen Bild des männlichen, heroischen Ur-Ariers passt. Zunächst einmal handelt es sich bei dem in Bad Dürrenberg entdeckten Skelett um die Überreste einer Frau. Sie gehörte zu den Jägern und Sammlern der Mittelsteinzeit. Wie alle frühen Europäer hatte sie einen dunklen Teint. Die helle Hautfarbe entwickelte sich erst später im Zusammenhang mit dem Konsum von Milchprodukten. Bauern und Viehzüchter aus Anatolien waren einige 1000 Jahre nach der Frau von Bad Dürrenberg die ersten hellhäutigen Siedler in Europa. Die
Ausstattung des Grabes ist spektakulär für die Mittelsteinzeit. Überhaupt wurden damals nur ganz wenige Menschen in Erdbestattungen beigesetzt und dann auch nur sehr selten mit Beigaben. „Wenn man eine Klinge hat“, berichtet der Landesarchäologe von Sachsen-Anhalt, Harald Meller, „kann das schon viel sein. Andere Gräber sind überhaupt nicht vergleichbar!“ Im Grab der Bad Dürrenbergerin waren über 50 Zähne von Auerochsen, Wildschweinen und Hirschen gefunden worden - viele manuell durchbohrt und offenbar Teil einer Ritualkette. Dazu diverse Steinwerkzeuge und Klingen aus Feuerstein. Eine Nachgrabung 2023 legt außerdem nahe, dass noch Jahrhunderte nach dem Tod der Schamanin Opfergaben im Umfeld ihres Grabes abgelegt wurden. Wer also war diese Frau? Wie hat sie gelebt? Welche
Bedeutung hatte sie zu ihren Lebzeiten und sogar darüber hinaus? Vieles deutet darauf hin, dass die hochgeschätzte Frau eine Schamanin war. Dafür sprechen nicht nur die zahlreichen Begleitfunde, die zu einer schamanischen Ausstattung gehört haben könnten, sondern auch zwei medizinische Entdeckungen: Die Schneidezähne waren abgefeilt, was auf ein Initiationsritual hindeuten könnte. Erstaunt waren die Forscher jedoch vor allem über die Wirbelknochen des Skeletts. Eine Fehlstellung zweier Halswirbel könnte die Frau in die außergewöhnliche Lage versetzt haben, die Blutzufuhr ins Gehirn zu drosseln. Auf diese Weise hätte sie bewusst einen tranceartigen Zustand herbeiführen können. Diese Praxis barg allerdings auch Gefahren. Eine davon war ein Phänomen, das die Medizin als Nystagmus bezeichnet. Gemeint ist eine schnelle, unwillkürliche Augenbewegung. Was heute vor allem als Symptom einer Krankheit definiert ist, könnte in der Mittelsteinzeit als besonderes Kennzeichen gewertet worden sein und die Autorität einer Schamanin zusätzlich gestützt haben. Der Film begleitet die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler bei ihrer kriminalistischen Spurensuche, in deren Verlauf das Rätsel um die Schamanin von Bad Dürrenberg Stück für Stück gelöst wird. Fest steht: Sie war eine Frau von sehr großer Bedeutung. Mithilfe fachübergreifender Wissenschaft, von Archäogenetik über Archäologie bis hin zu modernster medizinischer Forschung, sollen ihre Lebensumstände genauer beleuchtet werden. Die Erkenntnisse aus den unterschiedlichen Bereichen ermöglichen es zum ersten Mal auch, eine realistische 3-D-Gesichtsrekonstruktion der Schamanin zu erstellen. Diese wiederum dient als Datenbasis für neueste VFX-Technologie: „Unreal Engine“ kombiniert mit der „MetaHuman“-Technologie. Das Ergebnis: In einer komplett digital gebauten Welt, die die Fauna und Flora der Mittelsteinzeit nach dem aktuellen Wissensstand abbildet, agiert ein Avatar der Schamanin, der ihr Äußeres so naturgetreu wie derzeit möglich wiedergibt.
Hinweis
Audiodeskription, Gebärdensprache
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